„Verstörendes wie Begeisterndes“ – oder: Was wir in den Parteiprogrammen zur NRW-Wahl so alles zum Landleben gefunden haben

Guten Tag!
Mögen Sie Wahlprogramme? – Wir auch nicht. Lieber lesen wir einen Roman oder eine spannende Reportage. Oder ein gut geführtes Interview. Wahlprogramme hingegen … – also fesseln wollen sie nicht. Und erzählen auch nicht. Vielmehr wollen sie argumentieren, aber auch um Zustimmung werben. Weil das aber kaum zusammenpasst und niemand verprellt werden soll, entstehen am Ende oft wattige Wortwolken. Wer hineingreift, hält am Ende nicht immer etwas in der Hand.
Notwendig sind Wahlprogramme trotzdem. Denn wie sonst wüssten wir Wähler:innen, was die Parteien bewegt, ob sie dieselben Probleme sehen wie wir und was sie als Lösung vorschlagen?
Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen werden in gut drei Wochen die Landtagsabgeordneten neu gewählt. Deshalb haben wir uns die Wahlprogramme der fünf im NRW-Landtag vertretenen Parteien CDU, SPD, Grüne, FDP und AfD genauer angesehen. Unsere Leitfrage: Wo sehen die Parteien die Probleme im ländlichen Raum? Und mehr noch: Was schlagen sie zur Lösung vor?
Wer hat’s gesagt?
Zunächst aber haben wir für Sie ein Rätsel vorbereitet. Was meinen Sie: Welches Zitat hat welche Partei in ihr NRW-Landtagswahlprogramm geschrieben?
- „In Zukunft steht uns alles zur Verfügung, was uns bewegt.“
- „Wir wollen bereits heute die Schule von morgen denken und so umsetzen, dass Zukunft Schule macht.“
- „Wer krank ist, braucht ein Krankenhaus vor Ort. Eines, das so nah ist, dass ein lieber Freund mit Blumenstrauß leicht zu Besuch kommen kann.“
- „Insbesondere Gruppen, die gegen unsere Gesellschaft vorgehen, dürfen nicht den Status der Gemeinnützigkeit genießen.“
- „Verstörendes wie Begeisterndes lassen uns unsere Haltung und Erfahrungen hinterfragen und öffnen den Blick für Neues, in Vergessenheit Geratenes und Ungewöhnliches.“
Das sind doch mal schöne wolkige Wattesätze, nicht wahr? Nicht nur die Logik lässt bisweilen zu wünschen übrig, sondern auch die Grammatik. Wir waren das nicht. Wir haben nichts verändert. Versprochen!
In welchem Wahlprogramm uns diese Sätze aufgefallen sind, verraten wir weiter unten. Jetzt gucken wir erst einmal, was die NRW-Landtagsparteien zu Problemen des ländlichen Raumes zu sagen haben. Ausgewählt haben wir drei Themen:
- die Netzversorgung (Internet, Mobilfunk) auf dem Land,
- die medizinische Versorgung und
- die Mobilität.
CDU: Gigabit für alle
„Machen, worauf es ankommt“ – so lautet das Motto der CDU zur Landtagswahl in NRW. In ihrem Wahlprogramm lesen wir, NRW sei „das am besten mit gigabitfähigem Netz versorgte Flächenland“. Lücken scheint es aber trotzdem zu geben. Denn es folgt sogleich die Ankündigung, dass Gewerbegebiete und Schulen „bis Ende 2022“, also in gerade einmal sieben Monaten, mit einem Gigabit-Anschluss versorgt werden sollen. Außerdem soll bis 2025 ein „Gigabit-Masterplan“ umgesetzt werden. Was das genau sein soll, erfährt man im Wahlprogramm aber nicht.
Konkreter wird die Landes-CDU beim Mobilfunkausbau: Bis Ende 2024 sollen in NRW mindestens 10.000 Mobilfunkstandorte mit dem 5-G-Standard erweitert werden, sodass das Land damit „nahezu vollständig“ versorgt sei. „Insbesondere im ländlichen Raum“ sei beabsichtigt, mit Mobilfunkkoordinatoren in den Kreisen und kreisfreien Städten den Mobilfunkausbau zu beschleunigen.
Bielefeld und Landarztquote
Bei der medizinischen Versorgung des ländlichen Raumes erinnert die Landes-CDU an die von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann vorangetriebene Gründung der medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld und an die Landarztquote, die fortgeführt werden soll: „Die Bewerberinnen und Bewerber erhalten eine Studienplatzgarantie, wenn sie sich verpflichten, nach dem Studium auf dem Land als Hausarzt zu arbeiten.“ Geburtshilfe sowie Kinder- und Jugendmedizin „müssen flächendeckend und wohnortnah zur Verfügung stehen“, verspricht das CDU-Wahlprogramm.
Zur Mobilität im ländlichen Raum heißt es dort, der ÖPNV solle „für jede Kommune ab 20.000 Einwohnern“ ausgebaut werden. Außerdem möchte die CDU für Bahnen im Personennahverkehr einen 15-Minuten-Takt „auf allen Strecken in NRW“ einrichten, ein 100-km-Seniorenticket einführen und „weitere 1000 Mobilstationen“ zur Vernetzung von ÖPNV, Fahrrad, Car-Sharing und anderen Angeboten bauen.
SPD: „Zweites industrielles Herz auf dem Land“
„Der ländliche Raum in NRW mausert sich zum zweiten industriellen Herz unseres Landes“, stellt die Landes-SPD in ihrem Wahlprogramm fest. Auf dem Land sei die gewerbliche Wirtschaft deutlich stärker gewachsen als in urbanen Regionen. Es werde Zeit, „dass die Landespolitik diese Entwicklung aktiv befördert“, meint die Landes-SPD, die sich seit 2017 in der Opposition befindet. Sie möchte ein „Forschungsinstitut für Sozio-Informatik“ gründen, das sich mit Fragen der „Lebensqualität und Daseinsvorsorge in ländlich-industrialisierten Räumen“ befasse.
Gesundheitsversorgung mit mehr Personal
Wie die CDU will auch die SPD den Breitbandausbau im ländlichen Raum beschleunigen, die Infrastruktur zur Daseinsvorsorge weiterentwickeln und die Gesundheitsversorgung stärken. Die medizinische Versorgung auf dem Land will die SPD vor allem durch Ausbau des Personalangebotes sichern. Als Instrumente werden Studienstipendien, Praxiskredite und „mehr Studienplätze für Medizin“ genannt.
Landesweit sollen alle Krankenhausstandorte erhalten werden – „manche möglicherweise mit verändertem Versorgungsauftrag“., wie die SPD in ihrem Wahlprogramm einräumt. Auch neuartige Gesundheitszentren schlägt die Partei vor, die die ambulante und die stationäre Versorgung verbinden.
Bei der Mobilität im ländlichen Raum strebt die SPD „einen Umbau der Verkehrsinfrastruktur insbesondere in den Kommunen“ an. Vor allem die Nahmobilität soll gestärkt werden, etwa durch den Ausbau der Radwegenetze, die Einführung eines 365-Euro-Tickets und nicht zuletzt durch eine neu einzurichtende Stabsstelle „Nahmobilität“ im Verkehrsministerium. Langfristig strebt die SPD einen ticketlosen umlagefinanzierten ÖPNV an.
FDP: „Bisher nicht vollständig angeschlossen“
Zur Digitalisierung hat die FDP noch einmal ihren – sprachlich verqueren – Slogan aus dem Bundestagswahlkampf 2021 aus der Schublade gezogen: „Digital first, Papier second“. Doch während ihr Koalitionspartner CDU das Bild einer bereits fast geschlossenen Gigabit-Landschaft NRW entwirft, spricht die FDP vorsichtig von „bisher nicht vollständig angeschlossenen ländlichen Gebieten“.
Bis 2025 wollen die Liberalen „den Gigabitausbau bis an jede Milchkanne“ abschließen. Dabei setzen sie aber nicht auf staatliche Instrumente. Vielmehr halten sie es für erfolgversprechender, „die Anbieter in einen Wettbewerb um die günstigste Abdeckung zu bringen“.
Privat-Uni Herdecke ausbauen
Um die wohnortnahe Gesundheitsversorgung zu sichern, setzt auch die FDP darauf, mehr ärztlichen Nachwuchs „gerade für ländliche Regionen“ zu gewinnen. Die Liberalen streichen nicht nur die neue medizinische Fakultät in Bielefeld heraus, sondern: Die Liberalen fordern auch „mehr Studienplätze an der Universität Witten-Herdecke“.
Damit ist die FDP die einzige Partei, in deren Wahlprogramm die private Universität Witten-Herdecke angeführt wird, die bekanntlich der umstrittenen, als esoterisch und unwissenschaftlich geltenden Lehre der Anthroposophie Rudolf Steiners nahesteht.
Bei der Mobilität im ländlichen Raum setzt die FDP auf die flächendeckende Ausweitung von On-Demand-Systemen, also von Fahrmöglichkeiten auf Anforderung. Sie sollen „an vielen Stellen“ die starren Angebote ablösen, die laut FDP „an der Lebensrealität vieler Menschen vorbeigehen“.
Grüne: Landbus auf Bestellung
Den „Bus auf Bestellung“ und Mitfahrdienste, digital erschlossen, sehen auch die Grünen als Lösungsweg, um mehr Mobilität im ländlichen Raum zu erreichen. Die Ökopartei räumt ein, dass gerade auf dem Land die Familien auf das Auto angewiesen sind. Die Umweltpartei setzt zum einen auf das E-Auto, verbunden mit den „ehrgeizigen Ausbauzielen für die erneuerbaren Energien“. Zum anderen setzen die Grünen auf eine engere Vernetzung der Verkehrsmittel, auf Sharing-Angebote und auf eine gemeinsame Buchungsplattform für alle Mobilitätsformen.
Von einem funktionierenden und schnellen Internet sei NRW „zu oft noch weit entfernt“, monieren die Grünen. Sie streben an, mit einem „Genehmigungs-Turbo“ und gezielter Förderung schnelles Internet mit Glasfaser sowie 5 G „an jede Haustür“ zu bringen.
Um die medizinische Versorgung zu sichern, schlagen die Grünen, ähnlich der SPD, kommunale Gesundheits- und Pflegezentren vor, die sich am Gemeinwohl orientieren und berufsübergreifend („interprofessionell“) arbeiten. Eine weitere Privatisierung der Krankenhäuser lehnen die Grünen ab. Wenn möglich, sollten Krankenhäuser zurück in die öffentliche Hand geführt werden.
AfD will mehr „Lichtwellenleiter“
Die rechtsnationale, in Teilen rechtsextreme und vom Bundesverfassungsschutz beobachtete Partei „AfD“ möchte die Glasfasertechnologie („Lichtwellenleiter“) bis zum Nutzer gefördert und beim Mobilfunk „alle Funklöcher geschlossen“ sehen.
In der Verkehrspolitik setzt die Partei auf den motorisierten Individualverkehr „als beliebteste Möglichkeit der Fortbewegung“. Andererseits hält sie die Sicherheit der Fußgänger und Radfahrer für den „wichtigsten Entscheidungsfaktor bei der Gestaltung des Verkehrs“. Für den ÖPNV kündigt die Partei an, „pünktliche und sichere öffentliche Verkehrsmittel“ ermöglichen zu wollen.
Wo steht das geschrieben?
So, nach diesem Durchgang durch die Wahlprogramme jetzt wie versprochen des Rätsels Lösung:
- „In Zukunft steht uns alles zur Verfügung, was uns bewegt.“
Das sagen die NRW-Grünen auf Seite 18 ihres Wahlprogramms. - „Wir wollen bereits heute die Schule von morgen denken und so umsetzen, dass Zukunft Schule macht.“
Das sagt die NRW-CDU auf Seite 66 ihres Wahlprogramms. - „Wer krank ist, braucht ein Krankenhaus vor Ort. Eines, das so nah ist, dass ein lieber Freund mit Blumenstrauß leicht zu Besuch kommen kann.“
Das sagt die NRW-SPD auf Seite 32 ihres Wahlprogramms. - „Insbesondere Gruppen, die gegen unsere Gesellschaft vorgehen, dürfen nicht den Status der Gemeinnützigkeit genießen.“
Das sagt die NRW-AfD auf Seite 81 ihres Wahlprogramms. - „Verstörendes wie Begeisterndes lassen uns unsere Haltung und Erfahrungen hinterfragen und öffnen den Blick für Neues, in Vergessenheit Geratenes und Ungewöhnliches.“
Das sagt die NRW-FDP auf Seite 44 ihres Wahlprogramms.
ZUGABE
Das Gärtnern der anderen
Zum Start in den Mai hat unsere Kollegin und Garten-Expertin Brigitte Laarmann wieder zusammengefasst, was in den Gärten gerade angesagt ist. Bitte sehr:
„Ist der alljährliche Frühjahrsauftakt aus Jäten, Düngen und Pflanzen geschafft, machen Gartenliebhaber den Rücken gerade und recken den Kopf. Sie wollen sehen, wie andere gärtnern. In Gemeinschaftsgärten ergibt sich dieser Austausch von selbst. Solche Projekte gibt es auch in ländlichen Regionen. Innovativ ist der Gemeinschaftsgarten in Wettringen, einer 8000-Einwohner-Gemeinde im nördlichen Münsterland. Ein Bürgerverein pachtete 4000 m2 im Ortszentrum, legte 50 Beetparzellen an und baute ein Gartenhaus. Hier treffen sich Alteingesessene und Zugezogene, Kita-Kinder und Rollstuhlfahrer zum Buddeln und Stockbrotbacken. Das Projekt erhielt LEADER-Fördermittel und lebt von freiwilligen Arbeitsstunden sowie Spenden. Die Aktiven sind per App vernetzt. Das Tor des Gemeinschaftsgartens steht von Mai bis Oktober tagsüber für Interessierte offen.
Gartenleidenschaft verbindet auch die Beetschwestern: Es sind vier Freundinnen, die über Stauden, Wildkräuter und Gartentherapie bloggen, aber auch auf Events oder Fachliteratur hinweisen. Gute Rezepte werden ebenso weitergegeben wie gartenphilosophische Erkenntnisse.“
In eigener Sache: Der Landbrief wächst und wird zum Abo
Schon jetzt wichtig für Sie zu wissen: Ihr jetziger Bezug des Landbriefs wird nicht automatisch auf ein kostenpflichtiges Abo-Modell umgestellt. Denn wie beim Start versprochen, lesen Sie den Landbrief ganz unverbindlich. Das können Sie bis Anfang Mai sehr gerne weiter machen. Wenn Sie also nichts weiter tun, läuft Ihr Bezug einfach aus.
Wenn Sie sich hingegen für ein Landbrief-Abo entscheiden sollten – worüber wir uns natürlich sehr freuen würden –, müssen Sie sich einmalig neu registrieren. Für die ersten 30 Tage fallen weiterhin keine Kosten für Sie an. Erst ab dem zweiten Monat wird der Landbrief monatlich 8 € kosten. Der Bezug ist jederzeit flexibel kündbar. Aber wie gesagt: Wenn es so weit ist, geben wir Ihnen nochmals Bescheid.
Haben Sie sich für den Bezug entschieden, erhalten Sie weiterhin jeden Mittwoch wie gewohnt einen Landbrief von uns zugeschickt. Außerdem – auch das ist neu – erhalten Sie dann jeden Sonntag einen besonderen Landbrief, verfasst von wechselnden Kolumnist:innen. Deren Namen nennen wir hier noch nicht, aber so viel sei schon jetzt verraten: Wir haben eine Runde höchst interessanter Autor:innen versammelt, die das Land aus sehr unterschiedlichen Perspektiven kennen – sozusagen von lokal bis global.
Einen guten Start in den Mai wünscht Ihnen
mit herzlichen Grüßen
Gisbert Strotdrees